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Wie bleibt mein Gehör gesund?

Musik genießen, sich unterhalten, Gefahren erkennen: Unserem Gehör verdanken wir viel Orientierung und jede Menge Lebensfreude. Grund genug, es zu schützen. Ein Gespräch mit Hör-Expertin Prof. Dr. Birgit Mazurek.

Frau Prof. Dr. Mazurek, mehr als 26 Prozent der Deutschen fühlen sich häufig gestresst. Der Stress scheint kontinuierlich zuzunehmen. Was passiert bei Stress mit unserem Gehör?

Stress hat Einfluss auf unseren Körper. Aufs Herz, auf unser Gehirn und auch auf unser Gehör. Grundsätzlich muss man aber sagen: Stress ist erst mal einfach ein Warnsignal. Das ist gut und wichtig. Natürlich stressen uns Hupen, Krankenwagensirenen oder auch das Raubtier, vor dem unsere Vorfahren wegrennen mussten. Aber diese Form von Stress ist natürlich auch wichtig für unsere Entwicklung und unser Überleben.

Wenn der Stress zu viel wird

Die Frage ist immer: Wie viel Stress? Wird er zu viel, werden auf körperlicher Ebene – über die sogenannte emotionale Reaktionsebene – unsere Stressachsen aktiviert und das Stresshormon Cortisol wird ausgeschüttet. Im Gehirn zum Beispiel, aber auch in der Hörschnecke und in der Hörbahn, wo Stressrezeptoren sitzen. Das Cortisol kann hier direkt angreifen. Wir müssen allerdings die Ressourcen haben, um den Stress wieder auszugleichen. Ist das nicht der Fall, kann es zum Hörsturz kommen. Auch Symptome wie Tinnitus können auftreten. Heißt: Es können also rein über die emotionale Reaktionsebene – das Gefühl von zu viel Stress – körperliche Erkrankungen entstehen. Das ist die psychosomatische Ebene. Die andere ist die rein ursächliche. Also: hohe Lautstärken.

Ist es von unserem persönlichen Empfinden abhängig, ob wir hohe Lautstärken als Stress wahrnehmen?

Das hat nichts mit der inneren Haltung zu tun, nein. Das muss man ganz klar sagen. Als „normal laut“ empfinden wir in aller Regel Geräusche im Bereich zwischen 40 und 65 Dezibel. Laut wird es für uns ab einer Lautstärke von etwa 85 Dezibel. Ab etwa 95 Dezibel tut uns der Lärm schon weh. Und je höher die Lautstärke, desto kürzer ist sie für unser Gehör verträglich. Richtig große Konzerte liegen oft bei über 100 Dezibel und dauern natürlich länger, als es uns guttut. Auch wenn wir das Konzert vielleicht genießen: Lärm ist per se Stress, der zu einer direkten Schädigung der Hörsinneszellen führt. Und die regenerieren sich nicht. Bei keinem Säugetier, auch bei uns nicht.

„Wichtig ist, sein Leben lang achtsam mit seinem Gehör umzugehen.”

Prof. Dr. med. Birgit Mazurek, Direktorin des Tinnituszentrums an der Charité in Berlin.

Woran liegt es, dass man manchmal besonders sensibel auf laute Geräusche reagiert?

Wir wissen aus der Forschung, dass zum Beispiel Schlafmangel das Gehör empfindlicher macht, vulnerabler. Alkohol übrigens auch. Mittlerweile ist aber auch klar, dass es genetische Faktoren dafür gibt, warum manche Menschen sensibler auf laute Geräusche reagieren als andere. Das hängt mit der Ausstattung unserer antioxidativen Enzyme zusammen. Studien aus Schweden haben ergeben, dass Menschen, die in besonders lauten Berufen arbeiten, empfindlicher auf L.rm reagieren, wenn bei ihnen ein bestimmtes Enzym in niedriger Konzentration vorhanden war. Also: Schädlich war der Lärm für alle, aber für diejenigen war er besonders belastend.

Zum Vergleich: So laut sind Geräusche in Dezibel

  • Fallen einer Feder: 0 Dezibel
  • Leichter Wind: 30 Dezibel
  • Normales Gespräch: 65 Dezibel
  • Streitgespräch: 80 Dezibel
  • Hauptverkehrsstraße: 85 Dezibel
  • Disco, Kreissäge: 110 Dezibel
  • Silvesterböller in der Nähe des Ohres: 170 Dezibel

Woran merke ich, dass ich mein Gehör gerade besonders belaste?

Nach einer temporären lauten Exposition – nach einem Konzert zum Beispiel – könnte das ein Piepen am nächsten Morgen sein. Dahinter steckt eine erste Veränderung auf Zellebene, oft aber auch gekoppelt mit der emotionalen Ebene – wenn wir zum Beispiel wenig geschlafen haben, die Nacht durchgefeiert haben oder es vielleicht auch noch toxische Einflüsse gab wie zum Beispiel Medikamente, Drogen oder Alkohol. Dann sollten Sie auf jeden Fall erst mal L.rm vermeiden und sich genügend Ruhe gönnen, damit Sie Ressourcen haben, um die Belastung auszugleichen. Und Sie können natürlich Ihr Gehör messen lassen und herausfinden, ob die Hörschwelle durch Lärm beeinflusst ist.

Was bedeutet das?

Die Hörschwelle ist die Wahrnehmungsgrenze eines Höreindrucks. In der Regel sollte sie gut sein, bei Kindern und Jugendlichen sollte sie exorbitant gut sein. Auch mit 30 sollte es noch gut sein. Aber alles, was ich mir im Laufe des Lebens anhäufe – Lärmbelastungen, Schädigungen durch Medikamente und Weiteres –, kann zu einer altersmäßigen Schädigung dazukommen. Dies hat zur Folge, dass ich mit meinem Gehör in meiner Altersgruppe schlechter dastehe.

Und was können wir tun, wenn wir einen Hörsturz erleiden – oder ein Piepen im Ohr haben?

Medikamente gegen Tinnitus im chronischen Stadium gibt es nicht. Bei allen chronischen Ohrgeräuschen werden Counseling und kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als Therapie eingesetzt. Also eine persönliche Beratung, die auf das Ohrgeräusch abgestimmt ist und zusätzlich durch eine Verhaltenstherapie hilft, Denk- und Verhaltensweisen zu verändern, um somit mit dem Ohrgeräusch zurechtzukommen. Das Counseling kann auch mit Selbsthilfe kombiniert werden. Im Falle eines Hörsturzes kann eine Akuttherapie am Innenohr erfolgen. Wenn beim Hörsturz das Hörvermögen nicht zurückkommt, ist ein Hörgerät sinnvoll.

 

Wie kann ich feststellen, ob ich ein Hörgerät brauche?

Wenn man selbst den Eindruck hat, schlechter zu hören, oder andere einen darauf aufmerksam machen, sollte man auf jeden Fall eine HNO-Praxis aufsuchen, ein Ton­schwellenaudiogramm und einen Sprach-Hör-Test machen. Das Sprachaudiogramm ist ein spezieller Test, bei dem Zahlen und Einsilber getestet werden. Einundzwanzig, dreiundzwanzig, fünfundachtzig. Kommt Klaus aus dem Haus oder kommt die Maus aus dem Haus? Das ist für jemanden, der schlechter hört, schon schwieriger. Bei einer normalen Sprechlautstärke von 65 Dezibel sollte man eigentlich hundert Prozent der Wörter verstehen – ist das nicht der Fall, ist das das erste Anzeichen für die
Not­wen­digkeit eines Hörgeräts. Wenn Sie ein Hörgerät brauchen, sollten Sie frühzeitig damit anfangen – und zwar auf beiden Ohren. Denn Sie brauchen beide Ohren, um ordentlich zu hören. Wichtig ist auf jeden Fall, den Hörverlust auszugleichen, und zwar so bald wie möglich. Wird der Hörverlust nicht ausgeglichen, besteht ein neunfach erhöhtes Risiko auf eine Demenzentwicklung.

Was können wir tun, um möglichst lange gut zu hören?

Wir sollten Lärm vermeiden, so gut es geht. Besonders für Eltern ist die Aufklärung ganz wichtig. Kinder und Jugendliche müssen verstehen, dass unser Gehör ein ganz wichtiges Sinnesorgan ist, das uns unser Leben lang begleitet. Und auch begleiten sollte. Wenn unser Gehör also frühzeitig geschädigt wird – über Silvesterknaller in der Nähe der Ohren oder zu laute Musik –, dann werden diese Hörsinneszellen nicht nachwachsen. Schlimmstenfalls bekomme ich auch noch ein Ohrgeräusch und leide dann an Begleiterkrankungen bis hin zur Depression.

Aus Ihrer Forschungsperspektive: Glauben Sie, dass in naher Zukunft neue Hörsinneszellen generiert werden können?

Darauf würde ich mich nicht verlassen. Dahin ist es noch ein langer Weg. Die Forschung geht auf jeden Fall voran und die Behandlungsmethoden werden gezielter. Aber noch geht das nicht. Und auch Ohrgeräusche im chronischen Stadium kann man nach wie vor nicht heilen. Man kann nur lernen, damit zu leben. Wichtig ist also, sein Leben lang achtsam mit seinem Gehör umzugehen.

Bildnachweis

Artikeleinstieg: AaronAmat (istockphoto.com)
Im Text: Heiko Laschitzki

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