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Arbeiten im Homeoffice: Wie nah darf der Job an mich heran?

Corona hat unsere Arbeitswelt stark verändert. Heute arbeiten wir mehr denn je im Homeoffice. Welche Auswirkungen hat das auf uns, unsere Leistung und unsere Arbeitswelt?

Der Begriff „Work-Life-Balance“ hat derzeit einen schweren Stand. Einerseits wirkt er veraltet. Denn es ist offensichtlich, dass sich unser Leben nicht distanziert von unserer Arbeit betrachten lässt. Immerhin widmen wir ihr pro Woche für 40 von 168 Stunden unsere Aufmerksamkeit, Kraft und Kreativität. Die Zeiten, in denen wir uns häufig körperlich ruinieren mussten, um unsere Familie ernähren zu können, gehören für die meisten Menschen in Deutschland glücklicherweise der Vergangenheit an. Andererseits ist der Ausgleich von Freizeit und Arbeit das Thema der Stunde, seit viele Tausend Menschen im letzten Jahr ihren gewohnten Arbeitsplatz gegen ihr Wohnzimmer eingetauscht haben. Ganz klar: Wenn Work und Life permanent am gleichen Ort stattfinden, ist das mit der Balance nicht einfach.

Corona schickte uns ins Homeoffice

Mit Beginn der Pandemie veränderte sich für viele ihr Arbeitsplatz vollständig: Dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom zufolge arbeiteten während der Pandemie 10,5 Millionen Berufstätige ausschließlich im Homeoffice und weitere 8,3 Millionen teilweise im Homeoffice – also knapp 45 Prozent aller Berufstätigen. Für viele von ihnen die erste Begegnung mit der Remote-Arbeitsweise und eine radikale Veränderung des Arbeitsalltags: Viele Videomeetings, kein Plausch am Kaffeeautomaten, dafür mitunter neue Herausforderungen wie Homeschooling oder heimwerkende Nachbarn. 

Zufrieden im Homeoffice?

Hat uns das Homeoffice verändert? Nein. Wir haben uns verändert, aber nicht durch das Homeoffice zu Pandemiezeiten – das sagt Dr. Hannah Schade, die am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund die Auswirkungen von Homeoffice während der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden und die Produktivität von Beschäftigten erforscht. „Wir haben Daten von unserem eigenen Institut und von vielen anderen. Und tatsächlich sind sie ziemlich deckungsgleich: Die Zufriedenheit steigert sich im Homeoffice. Das war in den Jahren vor der Pandemie so – während der Pandemie war die Zufriedenheit noch etwas höher. Wie kann das sein? 

Zu Hause zu arbeiten ist für viele eine Belastung. Im Rahmen einer Studie der Technischen Universität Chemnitz während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 gaben rund 60 Prozent der Teilnehmenden an, dass das Arbeiten im Homeoffice die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschwimmen lässt. Mehr als jeder Vierte (27 Prozent) empfindet das als Belastung – und vor allem berufstätige Frauen im Homeoffice mit kleinen Kindern zeigten sich von der Doppelbelastung stark gestresst. Eine weitere Herausforderung sind Onboardingprozesse: Wer im Homeoffice eine neue Stelle antritt und die neuen Kollegen nur aus den Kacheln eines Videocall-Programms kennt, tut sich oft schwer damit, Nähe zum neuen Team aufzubauen und ein Teil davon zu werden. 

Und trotzdem steigt die Zufriedenheit im Homeoffice? „Es gibt natürlich negative Aspekte, doch sie stecken in den positiven Bewertungen bereits drin. Sie überwiegen nur nicht“, sagt Dr. Hannah Schade. „Ein Beispiel: Jemand kann das Homeoffice an sich positiv bewerten, weil er produktiver ist und seltener von Kollegen unterbrochen wird, und gleichzeitig bedauern, dass der persönliche Kontakt zu den Kollegen unter dem Homeoffice leidet. Oder nehmen wir die Situation von Eltern, die besonders belastet sind, weil sie sich während der Arbeit noch um die Betreuung ihrer kleinen Kinder kümmern müssen. Andersherum wäre es aber auch keine Entlastung, wenn sie selbst im Büro wären, aber die Kinder nirgends hinkönnten. In beiden Fällen gibt es Belastungen, aber die positiven Aspekte überwiegen dennoch.“

Wir achten mehr auf uns

Vor allem brachte das Homeoffice während der Pandemie aber eine erstaunliche Entwicklung mit sich: Wir haben gelernt, mehr auf unsere Bedürfnisse zu achten. „Das ist kein purer Homeoffice-Effekt, sondern ein Pandemieeffekt“, sagt Dr. Hannah Schade. „Wir mussten alle neu lernen, auf uns Acht zu geben, und sind sensibler für unsere eigenen Bedürfnisse geworden. Früher haben wir vielleicht einen Job ausgeübt, den wir nicht mochten, sind dann ins Fitnessstudio gegangen und haben automatisch ausgeklammert, dass unsere Arbeit uns eigentlich nicht guttut. Durch die Eigenverantwortung – für uns, aber auch für unsere Arbeit im Homeoffice – ist ein neues Selbstbewusstsein entstanden.

Wer zum Beispiel jeden Tag mit dem Mittagstief kämpft, macht jetzt vielleicht in der Mittagspause einen Powernap. Oder wer merkt, dass er zu viel sitzt, macht jetzt zwischendurch etwas Sport. Wir haben gelernt: Wir wissen selbst, wie wir gut arbeiten. Wir sind die Experten. Sich selbst Erfolgserlebnisse zu schaffen und als kompetenten Arbeitnehmer wahrzunehmen – das entscheidet über unsere Arbeitszufriedenheit.“

Hannah Schade steht lächelnd vor einer grünen Hecke/Hannah Schade hält einen Vortrag mit Laptop.
Dr. Hannah Schade erforscht am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund die Auswirkungen von Homeoffice während der Corona-Pandemie auf das Wohlbefinden und die Produktivität von Beschäftigten.

Arbeitsmodelle ändern sich

Dieses neue Selbstverständnis führt Dr. Hannah Schade zufolge auch dazu, dass sich unsere Arbeitsmodelle in Zukunft stark verändern. Sie referiert und diskutiert auf Arbeitsschutzkonferenzen, spricht mit Betriebsräten und Personalabteilungen und bekommt mit, wie immer häufiger Vereinbarungen zu Telearbeit und Homeoffice umgesetzt werden. Wie Räume für Präsenzarbeit verkleinert werden. Und dass die Arbeitgeber die Veränderung annehmen. „Überraschend schnell, wie ich finde“, sagt Dr. Hannah Schade. „Unterm Strich sind sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber an mehr Homeoffice im Regelbetrieb interessiert. Da die Frage im Raum steht, wie es nach der Pandemie weitergeht, wird das Momentum gerade genutzt, um eine Übereinstimmung der Interessen zu finden.

Flexible Arbeitsweisen

Nur noch Homeoffice anzubieten ist in den meiste Fällen aber nicht die Lösung, denn es gibt Leute, die zu Hause aus verschiedenen Gründen nicht gerne arbeiten. Das muss man respektieren: Sie haben sich schließlich in den meisten Fällen nicht für einen Homeofficejob beworben. Arbeitgeber müssen sich also die Mühe machen, zu dividieren, damit jeder so arbeiten kann, wie es ihm am leichtesten fällt.“

Es braucht also ein Modell, bei dem diejenigen im Büro arbeiten, die es brauchen, oder dann, wenn sie es brauchen, und bei dem andere von zu Hause aus arbeiten können. Das brächte auch Arbeitgebern Vorteile – potenzielle Mitarbeiter zum Beispiel,
die sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, für die ein weit entfernter Arbeitsplatz aber ein Grund wäre, sich gar nicht erst um eine Stelle zu bewerben. 

Ist ein Arbeitsmodell mit größtmöglicher Flexibilität in Zukunft die Lösung? „Nein – nicht maximale Flexibilität ist die Lösung, sondern individuelle Abstimmungen. Also festlegen: Wann bin ich erreichbar, wann nicht? Wann muss ich mich erholen? Was brauche ich? Ich würde mir wünschen, dass Führungskräfte ihrem Team eine „Lizenz zur Entspannung“ erteilen. Eigentlich hat auch jeder lieber einen erholten, schlauen Mitarbeiter als einen erschöpften. Das muss die Chefetage dann natürlich vorleben: Wenn die Arbeitnehmer sehen, dass der Chef auch im Urlaub Mails beantwortet, fällt es ihnen schwerer, sich selbst strengere Grenzen zu setzen. Aber wenn das gelingt, ist es für beide Seiten das Beste.“

Bildnachweis

Artikeleinstieg und Portait: Hannah Schade (privat)

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