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Expertin erklärt: So entsteht unser Wissen

Karteikarten, Eselsbrücken oder Mindmaps – jeder hat seine eigene Methode, wie er am effektivsten lernen kann. Doch wie werden neue Informationen zu Wissen? Kann unser Gehirn voll sein? Und warum vergessen wir? Ein Gespräch mit Psychotherapeutin Dr. Stephanie Geidies.

Dr. Geidies, täglich werden wir mit zahlreichen neuen Informationen konfrontiert. Wie werden diese Informationen zu neuem Wissen?

Die Frage, wie Wissen entsteht, ist sehr vielschichtig. Es gibt ein Modell, das nennt sich Wissens- beziehungsweise Informationspyramide, und das veranschaulicht, wie aus Informationen Wissen generiert wird. Die Pyramide beschreibt, dass Informa­tionen aus Daten bestehen, die sich wiederum aus Zeichen zusammensetzen. Als Zeichen verstehen wir zum Beispiel Zahlen, Symbole und Buchstaben. Ordnet man diese an, entstehen Daten, wie zum Beispiel Wörter oder Zahlenfolgen. Setzt man diese in einen Kontext, erhalten sie eine Bedeutung und werden zu Informationen. Diese ergeben mit unseren Erfahrungen, Wertvorstellungen und Fachkenntnissen verknüpft dann unser Wissen.

Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Zur Veranschaulichung könnte man folgendes Beispiel nehmen: 1, 2 und 3 sind erst mal nur Zeichen. Ordnet man sie, ergibt sich zum Beispiel die Zahlenfolge 21,3. Ergänzt man die Daten dann noch um eine Einheit, erhalten sie eine Bedeutung, zum Beispiel 21,3 kg/m2. Mit den entsprechenden Fachkenntnissen weiß man, dass es sich hier um den Body-Mass-Index (BMI) handelt. Die Zahl gibt also Auskunft darüber, ob jemand normal-, unter- oder übergewichtig ist. Als Medizinerin habe ich mal gelernt, dass ein BMI von 21,3 Normalgewicht bedeutet. Das kann ich aus dieser Information ableiten und so wurden aus Zeichen Daten, dann eine Information und schließlich Wissen.

Wie verarbeitet unser Gehirn neues Wissen?

Unser Gehirn ist ein sehr faszinierendes und komplexes Organ. Durchschnittlich kann es bis zu 100 Billionen Informationsbestandteile speichern. Das Beeindruckende dabei ist noch nicht mal unbedingt die große Datenmenge, die gespeichert werden kann, sondern dass die Informationen auch wiedergefunden werden, und das mitunter in recht kurzer Zeit. Unser Gedächtnis wird gebildet, indem unser Gehirn Lernerfah­rungen und Erlebnisse verarbeitet. Die aufgenommenen Informationen werden in verschiedene Anteile aufgespalten und in den dafür zuständigen Bereichen des Gehirns gespeichert. Durch zahlreiche Nervenzellen, die Netzwerke bilden, bleiben die Informationsanteile miteinander verknüpft.

Also gibt es nicht den einen Bereich im Gehirn, der unser Wissen speichert?

Nein, unser Gehirn lässt sich in unterschiedliche Bereiche einteilen, die für verschie­dene Gedächtnisarten zuständig sind. Gedächtnisbildung ist ein sehr komplexer Vorgang. So gibt es zum Beispiel ein deklaratives Gedächtnis, also eine „Fakten­speicher“. Dieser unterteilt sich wiederum in Gedächtnisanteile, die für die Erinnerung unserer persönlichen Biografie zuständig sind, und solche, in denen wir gelernte Fakten abspeichern. Das deklarative Gedächtnis ist vorrangig in der Großhirnrinde und hier vor allem im Frontal- und Temporallappen verortet. Auf der anderen Seite gibt es den Gedächtnisteil, der für das Speichern von Fähig- und Fertigkeiten verantwortlich ist, zum Beispiel Fahrradfahren – das sogenannte prozedurale Gedächtnis. Dafür kooperieren unter anderem Kleinhirn und motorische Areale der Großhirnrinde miteinander.

Und wenn wir aus vorhandenem Wissen neue Lösungen und Strategien schaffen: Welche Bereiche arbeiten da zusammen?

Im Gehirn sind die verschiedenen Anteile einer Information miteinander verbunden. Wenn wir zum Beispiel einen bestimmten Begriff hören, stellt unser Gehirn auto­matisch Verbindungen zu vorhandenen Informationen beziehungsweise bereits gespeichertem Wissen her. Dadurch können wir das Gehörte einordnen. Jede Sekunde entstehen im Gehirn zahlreiche Verbindungen zwischen entsprechenden Nervenzellen. Ungenutzte Verbindungen werden unterbrochen – wir vergessen den Inhalt. Bei diesen Prozessen sind sehr viele Areale beteiligt, zum Beispiel Kleinhirn, Vorderhirn und Großhirnrinde.

„Es sehr wichtig, dem Gehirn regelmäßige Pausen zu gönnen.“
 

Dr. Stephanie Geidies ist Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sie führt eine eigene Praxis in Coburg.

Und die höchste Stufe von Wissen ist dann Weisheit?

Wissen ist das, was ich bewusst lernen und mir aneignen kann. Weisheit geht tatsächlich noch eine Stufe weiter und über das reine Lernen hinaus. Hierbei geht es um ein tiefgehendes Verständnis von Zusammenhängen und die Fähigkeit, bei Problemen eine schlüssige und sinnvolle Lösung zu finden. Dafür nutzen wir Wissen und Erfahrungen, aber zum Beispiel auch Kreativität und Intuition. Nehmen wir mal strategisches Denken als Beispiel: Wir können uns verschiedene Situationen vorstellen, bevor diese passiert sind, und unterschiedliche Szenarien und Handlungsoptionen durchspielen. Dafür brauchen wir natürlich unser Wissen, aber auch Erfahrungswerte und unsere Vorstellungskraft. Weisheit ist sehr individuell ausgeprägt und ein erstrebenswertes Ziel menschlicher Entwicklung.

Künstliche Intelligenz ist ja gerade in aller Munde. Kann eine KI das auch leisten?

Meines Wissens kann künstliche Intelligenz aktuell keine Weisheit erzielen. KI imitiert menschliche kognitive Fähigkeiten, indem sie Informationen aus Eingabedaten erkennt und sortiert. Das basiert jedoch auf programmierten Abläufen. Vernunft, Emotion­alität, Empathie und Kreativität sind entscheidende Eigenschaften, die der künstlichen Intelligenz bisher fehlen. Daher hat die KI kein Verständnis für Zusammenhänge, die nicht programmiert wurden – sie hat kein Bewusstsein. Sie kann nicht über sich selbst reflektieren, sich selbst modifizieren und selbst Lernerfahrungen erfinden. Befehle an die KI müssen sehr genau sein, um eine präzise Antwort zu erhalten. Auch wenn die KI heutzutage schon Beeindruckendes liefert, ist Weisheit etwas, was sie nicht leisten kann.

Ist die Speicherkapazität unseres Gedächtnisses auch irgendwann mal ausgeschöpft? Und warum vergessen wir?

Nein, der Speicherplatz unseres Gehirns ist nicht irgendwann voll, denn die Aufnahme­kapazität unseres Langzeitgedächtnisses ist nahezu unendlich. Unser Organismus ist darauf ausgelegt, möglichst viele wichtige Vernetzungen zu behalten und abzu­speichern. Wie präsent Wissen ist, ist immer davon abhängig, wie oft wir es gebrauchen. Am ehesten vergessen wir Inhalte, die nicht beziehungsweise nur sehr selten abgerufen werden. Bereits 1885 zeigte Prof. Hermann Ebbinghaus in seiner Vergessenskurve auf, dass man nach 20 Minuten nur noch rund 60 Prozent des Inhalts eines gelesenen Textes abrufen kann. Die Vergessenskurve fällt in den ersten zwei Tagen kontinuierlich ab, dauerhaft bleiben nur rund 20 Prozent des Textes im Langzeitgedächtnis gespeichert. Und dann gibt es noch die Interferenz (Überlagerung) von Gedächtnisinhalten. Hierbei kommt es zu einer gewissen Konkurrenz von Hinweisreizen.

Ein alltagspraktisches Beispiel: Wenn Sie eine neue Telefonnummer bekommen, verwechseln Sie sie anfangs wahrscheinlich oft mit der alten. Ist die neue oft genug wiederholt, fällt es zunehmend schwerer, sich an die alte Telefonnummer zu erinnern.

Wie schaffen wir es, weniger zu vergessen?

Nur durch ständiges Üben bleiben die Nervenverbindungen in unserem Gehirn dauerhaft bestehen. An Gedächtnisinhalte erinnern wir uns umso leichter, je öfter wir sie wiederholen. Wenn wir Inhalte immer wieder mit neuen Umgebungsbedingungen oder in einem anderen Kontext verknüpfen, bleiben sie uns ebenfalls besser im Gedächtnis. Um geistigem Verfall entgegenzuwirken, sollte man sein Gedächtnis also regelmäßig trainieren. Außerdem ist es sehr wichtig, dem Gehirn regelmäßige Pausen zu gönnen. Sauerstoff- und Wasserzufuhr spielen eine große Rolle, genauso wie eine ausgewogene Ernährung zum Beispiel zur ausreichenden Versorgung mit Omega-3 -Fettsäuren und B-Vitaminen.

Und gibt es eine Strategie, mit der es uns gelingt, effektiver zu lernen und mehr Wissen zu speichern?

Hier wären wir wieder bei Hermann Ebbinghaus. Neben seiner Vergessenskurve hat er auch eine Theorie der Behaltenskurve entwickelt. Demnach lernen wir besonders effektiv, wenn wir möglichst viele Sinne miteinbeziehen.

  • Hören wir etwas nur, erinnern wir uns an rund 20 Prozent.
  • Sehen und hören wir etwas, bleiben davon bis zu 50 Prozent im Gedächtnis.
  • Wenn wir etwas hören, sehen, wiederholen und selbst weiterverarbeiten, können wir uns an bis zu 92 Prozent erinnern.

Zudem gibt es die Theorie der unterschiedlichen Lerntypen, nach der jeder von uns bestimmte Sinneskanäle favorisiert. Danach kann ich dann meine Lerntechniken wählen. Bin ich ein visueller Typ, arbeite ich gut mit Mindmaps oder Grafiken, während der auditive Typ eher auf Podcasts zurückgreift, um sich neues Wissen anzueignen. Die eine Strategie, um besonders effektiv zu lernen, gibt es aber nicht unbedingt, das ist ganz individuell.

Bildnachweis

Artikeleinstieg & im Text: AleksandarNakic (gettyimages.de)
Portrait: Jessica Mewes-Luenz

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