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Neurodiversität: Was Kinder mit ADHS und ADS zum Lernen brauchen

Menschen mit AD(H)S stehen vor speziellen Herausforderungen, die im Kindesalter beginnen. Wie könnte das Konzept der Neurodiversität ihnen und ihrem Umfeld helfen, ihr Leben erfolgreich zu gestalten? Ein Gespräch mit Professor Dr. André Zimpel von der Uni Hamburg.

Die Neurodiversitätsforschung kann helfen, anders auf Menschen zu blicken, die nicht so denken, fühlen und handeln wie die meisten von uns – beispielsweise Menschen mit ADHS oder ADS.

Herr Professor Zimpel, warum ist dieser andere Blick so wichtig?

Es gibt eine große Metastudie des Bildungsforschers und Pädagogen John Hattie. Er hat 300 Faktoren untersucht, die unseren Lernerfolg beeinflussen – Inklusion, Haus­auf­­gaben oder der Einsatz von Computertechnik zum Beispiel. Es kam heraus: An erster Stelle kommt die Selbsteinschätzung der Lernenden. Hatties Schlussfolgerung lautet daher: Das Wichtigste ist, dass Lehrende in der Lage sind, die Welt mit den Augen ihrer Schülerinnen und Schüler zu sehen.

Was bedeutet das für Menschen mit Aufmerksamkeitsbesonderheiten?

Wenn ich als Lehrkraft oder auch Vater oder Mutter von einem Kind mit ADHS, ADS, Tourette-Syndrom, Autismus- Spektrum oder Legasthenie nicht in der Lage bin, die Welt mit den Augen dieser Kinder zu sehen, dann kann ich sie nicht gut unterrichten und der Schulerfolg leidet. Deshalb ist die Neurodiversitätsforschung so wichtig, sie ist wahrscheinlich das Wichtigste für den Schulerfolg.

Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung von Kindern mit ADHS und ADS von jener normty­pischer Kinder?

Man muss sich einmal vorstellen: Im Vergleich zu Erwachsenen haben Kinder sehr große Gehirne. Die müssen mit Energie versorgt werden. Und Energie und geistige Nahrung hängen eng miteinander zusammen. Darum hungern Kinder auch ständig nach geistiger Nahrung. Sie wollen immer was Neues erleben, sie wollen Action. Das ist auch bei normtypischen Kindern so. Bei Menschen mit ADHS hält das länger an – bei manchen bis ins Erwachsenenalter. Der Psychiater Edward Hallowell, der selbst ADHS hat, sagt, er habe ein Gehirn wie ein Ferrari mit der Bremse eines Fahrrads. Ein treffendes Bild.

Also brauchen Kinder mit ADHS und ADS vor allem Abwechslung?

Ja – sie reagieren sehr empfindlich auf Monotonie und auf Langeweile. Dinge, die sich wiederholen, die eintönig ablaufen wie Rituale, können für sie sehr belastend sein. Rituale halten sie zwar aus, weil sie wissen, dieser monotone Stress hört irgendwann auf. Aber Freude machen sie ihnen nicht. Das bedeutet, dass sie sehr viel Anregung von außen benötigen. Diese Anregungen erfahren sie nicht in Bildungseinrichtungen. Schulen sind oft Orte der Langeweile. Kinder müssen stillsitzen, sie dürfen nicht laut sein. Das bedeutet für Kinder mit ADHS und ADS puren Stress. Um sich entfalten zu können, brauchen sie viel Bewegungsspielraum. Oft haben sie eine überschäumende Intellektualität. Sie interessieren sich für alles, was in ist und was out ist. Sie haben Spezialinteressen und finden Gebiete, für die sie sich begeistern. Sie brauchen aber eine Umwelt, die das fördert und sagt: Das, was du machst, ist genau richtig!

„Nichts beeinflusst den Lernerfolg so sehr wie die Selbsteinschätzung.“

Professor Dr. André Zimpel ist Diplompsychologe, Psychotherapeut sowie Sonder- und Diplompädagoge und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Themen Neurodiversität und Lernschwierigkeiten.

Ein Klassenraum voller Kinder mit verschiedenen Neurodiversitäten ist eine personelle Herausforderung – aber auch eine räumliche. Bräuchte man verschiedene Lernwelten für diese Kinder?

Es kann sein, dass in einer Klasse ein Kind im Autismus Spektrum sitzt, das kleinste Störungen zu selbstverletzendem Verhalten bringen, und in der gleichen Klasse sitzt ein Kind mit ADHS, das Störungen braucht, um sich wachzuhalten. Das ist nicht einfach. Wir brauchen daher Räume, in denen sie einen guten Arbeitsplatz finden. Sie müssen jederzeit die Klasse verlassen dürfen, wenn sie merken, dass sie es nicht aushalten. Sie können nur lernen, wenn ein Grundwohlgefühl da ist. Der Unterricht geht sonst ins Leere. Das ist genauso, wenn mir jemand ein Flächenintegral erklären will und bei mir drückt die Blase – dann wird er damit nicht viel Erfolg haben.

Auf welche Art und Weise würde es Kindern mit ADHS leichter fallen, Zusammenhänge zu verstehen?

Mathematik ist dafür ein gutes Beispiel: Viele Kinder mit ADHS revoltieren, wenn sie das Wort „Mathematik“ nur hören. Weil sie das langweilig finden. Das ist verständlich: Kinder bekommen im Matheunterricht unverständliche und uninteressante Aufgaben und dann wird geguckt, ob die Kinder die lösen können. Wenn ja – dann sind sie intelligent. Und das ist Quatsch. Mathematik erfordert viel Fantasie: Auf einem Wald­spaziergang wird ihnen keine 4 oder 8 über den Weg laufen. Die Zahlen existieren nur in unserem Kopf. Und ich kann auch definieren, wie ich will. Wenn ich mit Kindern diskutiere, warum eins plus eins immer zwei ergeben muss, sage ich: Muss es nicht. Wenn zwei Flüsse zusammenfließen, dann ist eins plus eins gleich eins. Und wenn zwei Kaninchen zusammensitzen, dann kann aus eins und eins acht werden. Die Mathe­matik ist frei. Sie ist nichts weiter als ein tolles Regelspiel, bei dem der Spaß größer wird, wenn ich mich an die Regeln halte. Diesen Spaß kann man Kinder erleben lassen.

Was können denn Eltern tun, um ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen?

Eltern müssen in der Lage sein, sich auf die Kinder einzulassen und die Welt mit ihren Augen zu sehen. Sie müssen herausfinden: Was tut dem Kind gut, was hilft ihm, was nicht? Diese Fragen müssen dann miteinander beantwortet werden. Die Kinder entwickeln nach und nach Kompetenzen, das anderen zu vermitteln und zu sagen: Nimm mir das jetzt bitte nicht übel, aber ich kann dir nicht mehr zuhören, weil ich ADHS habe, und erzähl bitte nach einer Pause weiter, aber ich muss jetzt kurz aufstehen. Wenn die Kinder das einschätzen können, können sie anderen helfen, mit ihnen umzugehen. Das ist das pädagogische Ziel.

Was wünschen Sie sich: Wie sollen wir in Zukunft mit Menschen umgehen, die anders ticken?

Menschen im Neurodiversitätsspektrum brauchen Verständnis für ihre Art zu lernen und zu kommunizieren. Ich wünsche mir, dass man Dispositionen nicht ändern will, sondern sie berücksichtigt. Diese Menschen haben uns viel zu geben: An ihnen können wir zum Beispiel lernen, wie gute Schule funktionieren sollte. Sie sind sensibel für schlechten Unterricht. Ich habe Studierende mit ADHS und ich sehe es ihnen an, wenn meine Vorlesung langweilig wird. Dann weiß ich, jetzt muss ich einen Zahn zulegen. Also sind sie pädagogisch sehr wertvoll.

Ihr Kind braucht Unterstützung?

Klären Sie gemeinsam mit Ihrem Kinderarzt oder Ihrer Kinderärztin, ob Ihr Kind neurodivergent ist. Gegebenenfalls kann eine Ergotherapie Ihr Kind unterstützen.

Mehr Infos finden Sie unter: www.audibkk.de/heilmittel

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Artikeleinstieg: VioletaStoimenova (istockphoto.com)
Im Text: damircudic (gettyimages.de)
Portrait: Draasch

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