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Unterwegs mit: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?

Wann entsteht unsere Persönlichkeit und wie sehr können wir unseren Charakter beeinflussen oder verändern? Darüber haben wir im Interview mit Marcus Roth, Professor für differentielle Psychologie an der Uni Duisburg-Essen, gesprochen.

„Unsere Persönlichkeit entwickelt sich unser ganzes Leben lang.“

Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Marcus Roth, Professor für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen

Prof. Dr. Roth, was genau ist die Persönlichkeit eigentlich? Gibt es dafür eine wissenschaftliche Definition?

In der Persönlichkeitspsychologie definieren wir Persönlichkeit als Gesamtheit aller menschlichen Besonderheiten im Verhalten und Erleben, die zeitlich stabil sind. Also Charaktereigenschaften, die in unterschiedlichen Lebenslagen gleich ausgedrückt werden. Das heißt, es liegt nicht an der Situation, dass eine Person ein bestimmtes Verhalten zeigt, sondern am Wesen dieses Menschen selbst. Dabei verstehen wir nur solche interindividuellen Differenzen, also die Unterschiede zwischen Personen, die im Normalbereich liegen als Persönlichkeit. Hierzu zählen beispielsweise Impulsivität oder auch Intelligenz.

Die „Big Five“ der Psychologie. Sie sprechen unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale an. Welche unterschiedlichen Eigenschaften gibt es denn noch?

Die Mehrzahl der Persönlichkeitsforschendengeht davon aus, dass es fünf Hauptdimensionen derPersönlichkeit gibt. In der Psychologie sprechen wirvon den „Big Five“, die bei jedem unterschiedlichstark ausgeprägt sind. Diese Dimensionen sind Neurotizismus,also die emotionale Stabilität, Extraversion,heißt, ein stark nach außen gerichtetesVerhalten, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeitund Gewissenhaftigkeit.Darüber hinaus gibt es aber auch die Unterscheidungzwischen Temperamentsmerkmalen und Fähigkeiten.Temperamentsmerkmale beschreibenunterschiedliche Ausdrücke des Verhaltens. Beispieledafür sind Impulsivität oder Aggressivität.Fähigkeiten sind Eigenschaften, die wir ein Lebenlang in uns tragen und die Leistungen ermöglichen.Dazu zählen Intelligenz, Kreativität oder Konzentrationsfähigkeit.Zudem wird unsere Persönlichkeitauch durch unsere Bedürfnisse, Interessen undEinstellungen geprägt.

Die Big Five

  • Neurotizismus (emotionale Labilität und Verletzlichkeit)
  • Extraversion (Geselligkeit, Extravertiertheit)
  • Offenheit für Erfahrungen (Aufgeschlossenheit)
  • Verträglichkeit (Rücksichtnahme, Kooperationsbereitschaft, Empathie)
  • Gewissenhaftigkeit (Sorgfältigkeit, Organisiertheit, Zuverlässigkeit)

Oft erkennen wir unsere eigenen Charakter­eigen­schaften in unseren Eltern oder unseren Kindern wieder. Aber ist Persönlichkeit überhaupt vererbbar?

Zum Teil ja. Wie die Big Five unserer Persönlichkeit ausgeprägt sind, wird früh festgelegt. Es ist also kein Wunder, dass wir uns oft in unseren Kindern wieder­erkennen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass etwa 50 Prozent dieser Charaktereigenschaften genetisch festgelegt sind. Bei der Intelligenz liegt der genetische Anteil sogar noch höher.

Und der Rest?

Nehmen wir an, ein Mensch ist extravertiert. Dann ist er das schon früh in der Kindheit. Was sich aber ändert und durch seine Sozialisation mitbestimmt wird, ist, durch welches Verhalten er seine Extraversion ausdrückt – geht er zum Beispiel viel auf Partys oder lieber ins Museum? An beiden Orten können Menschen extravertiert sein, aber auf unterschiedliche Arten. Trotzdem: Die grundlegende Eigenschaft ist früh da und bleibt unser Leben lang sehr stabil.

Wenn die Big Five zu 50 Prozent genetisch festgelegt sind, wie lange entwickelt sich unsere Persönlichkeit denn noch weiter?

Unsere Persönlichkeit entwickelt sich unser ganzes Leben lang. Wenn man beispielsweise extravertiert ist und merkt, dass das bei anderen Menschen gut ankommt, wird man sein extravertiertes Verhalten wahrscheinlich weiter ausbauen. Gleichzeitig nehmen Eigenschaften wie Intelligenz oder Kreativität im Alter ab. Weil das im Vergleich mit anderen Menschen unserer Altersgruppe gleichförmig passiert, sprechen wir in der Psychologie von einer relativen Stabilität. Derjenige, der vor 50 Jahren in einer Gruppe die schlauste Person war, wird das auch heute sein – auch wenn die Intelligenz dieses Menschen mit der Zeit ganz natürlich abgenommen hat.

Ist diese Entwicklung unserer Persönlichkeit ein unterbewusster Prozess oder können wir unsere Persönlichkeit beeinflussen und bestimmte Eigenschaften hinzugewinnen, verbessern oder verstärken?

Die Big Five können wir kaum verändern. Was wir verändern können, ist die Ausdrucksform im Verhalten. Ein zutiefst introvertierter Mensch kann nicht sagen: Ich möchte gerne ab sofort extravertierter sein. Aber er kann auf Partys und mehr unter Leute gehen. Trotz dieses Verhaltens wird aber seine grundlegende Temperaments­eigenschaft gleichbleiben. Das heißt, diese introvertierte Person, die sich bei geringer sozialer Stimulation wohlfühlt, wird auch weiterhin so empfinden – auch wenn sie sich dem Gegenteil aussetzt. Und jemand, der cholerisch ist, wird auch weiterhin schnell wütend werden. Wichtig ist, dass Menschen lernen können, ihre Temperaments­merkmale so auszudrücken, dass sie nicht dysfunktional sind.

Also, dass sie in der Gesellschaft gut funktionieren können?

Ja. Wobei es nicht so sehr darum geht, dass man seine Persönlichkeit verändert, um „dazuzugehören“. Stattdessen muss man mit dem leben, wer man ist. Man muss eine Umwelt finden, die zu einem als Person passt. Letztendlich fühlen sich Menschen wohl, wenn sie mit ihrer Persönlichkeit in einer Umwelt andocken, die ihren persönlichen Bedürfnissen entspricht.

Lässt sich das Charisma verbessern? Dennoch quillt das Internet über vor Coaching-Angeboten, die tiefgreif­ende Veränderungen und Optimier­ungen der Persönlichkeit versprechen. Wie sehen Sie das als Wissenschaftler?

Was ich da sehe, ist für mich wirklich erschreckend. Die Vorstellungen, was Persönlichkeit ist, und die Ideen, wie man sie verändern könnte, sind oft bar jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnisse. Da gibt es beispielsweise Versprechungen, das Charisma zu verbessern. Das ist so ein Begriff, der sich wissenschaftlich kaum halten lässt. Angebote zur Optimierung suggerieren zudem, dass es gute und schlechte Persönlichkeiten gibt. Aber was ist denn gut? Ist Extraversion gut oder ist Introversion gut? Wir arbeiten in der Psychologie nicht mit solch wertenden Termini. Prinzipiell besteht das Problem der meisten Coachingangebote, die auf dem Markt sind, darin, dass diese nicht evidenzbasiert sind. Das heißt, dass es gar nicht bewiesen ist, ob, wie und warum diese wirken.

Die Idee von guten und schlechten Persön­lichkeiten zahlt wohl auf den menschlichen Wunsch ein, andere in Schubladen zu stecken. Kann man Menschen denn überhaupt in ver­schiedene „Persönlichkeitstypen“ einteilen?

Ja und nein. Es stimmt: Wir haben das menschliche Bedürfnis, uns selbst und andere anhand ihrer Persönlichkeit in Gruppen – in Schubladen einzuteilen. Aber das ist nicht so einfach. Ich habe selbst viele Jahre in diesem Gebiet geforscht und festgestellt, dass eine konkrete Einteilung schwer ist. Mit Blick auf die Big Five gibt es zwar bestimmte Persönlichkeitsprofile, die häufiger sind als andere, aber das Problem ist, dass es immer eine Randunschärfe gibt. Der typologische Gedanke in der Persönlichkeits­psychologie hat deshalb nie weitergeführt.

Bildnachweis

Artikeleinstieg: Sneksy (istockphoto.com)
Im Text: kieferpix (istockphoto.com)
Portrait: Stefan Tempes

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