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Hallo Welt – wie unsere Wahrnehmung funktioniert

Wir hören, sehen, riechen, schmecken und tasten. Pausenlos, bewusst und unbewusst. Mit unseren Sinnen nehmen wir die Welt wahr, finden uns in ihr zurecht, treten miteinander in Verbindung. Wie arbeiten sie zusammen? Und was geschieht, wenn wir einen Sinn verlieren?

Sinne: Fundament unzähliger Entscheidungen

Unsere Sinne haben ein großes gemeinsames Ziel: Sie sichern unser Überleben. Informationen sammeln, Situationen einschätzen, Gefahren erkennen – für das menschliche Urprogramm ist unsere sinnliche Wahrnehmung von tragender Bedeutung. Schon als Babys scheinen wir das zu verstehen, denn wir trainieren mit Feuereifer. Wir greifen nach Gegenständen, drehen und wenden sie in unseren Händchen, lassen sie fallen, heben sie wieder auf. Einer unserer wichtigsten Aufträge, sobald wir auf die Welt kommen: zu verstehen, wie unsere Sinne zusammenhängen und bestmöglich zusammenarbeiten. Denn sie bilden das Fundament unzähliger Entscheidungen, die wir jeden Tag treffen, und machen komplexe Vorgänge erst im Zusammenspiel möglich.

Komplexe Aufgaben fürs Gehirn

Nehmen wir eine vermeintlich einfache Bewegung, wie beispielsweise den Griff zum Handy. Wir sehen das Handy und bereiten dann die Handlung vor: Die Hand muss richtig geformt und zum Handy geführt werden, es richtig ergreifen und festhalten. Allein daran sind schon mehrere Sinne beteiligt, die die nötigen Informationen kontinuierlich ans Gehirn senden. Dort kommen sie in speziellen Arealen zusammen, die Handlung wird vorbereitet und mit Unterstützung der Sinne durchgeführt. Dies ist nur ein Bruchteil der Dinge, die wir tagtäglich umsetzen. Angesichts ihres unendlich großen Aufgabenspektrums ist es nicht weiter verwunderlich, dass unsere Sinne großzügig ausgestattet sind. Allein in der Netzhaut eines Auges liegen um die 130 Millionen Sehsinneszellen. Knapp ein Drittel unserer Gehirnareale ist mit dem Auftrag „Sehen“ beschäftigt.

Prof. Dr. Kristine Krug, Neurowissenschaftlerin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Einmal Hirn und zurück

Wie eng unsere Sinne zusammenarbeiten, merken wir unter anderem dann, wenn etwas nicht ganz stimmig ist. Viele Menschen kennen das zum Beispiel vom Auto- oder Zugfahren: Lesen wir beim Fahren ein Buch, kann uns gehörig schlecht werden. Denn während die Fahrt selbst dynamisch ist, sind die Buchstaben, die wir lesen, statisch. Eine Divergenz, die nicht passt – und die unser Gleichgewichtssinn mit Übelkeit quittiert.

Oder hört man jemanden sprechen, die Bewegungen der Lippen passen jedoch nicht zum Gehörten, kann etwas Verrücktes geschehen: Wir hören etwas anderes. Unser System versucht, diese beiden Eindrücke zu verbinden, was nicht gelingt, und lässt daraufhin den stärkeren Sinn „gewinnen“. „Das Ohr folgt quasi dem Auge, man spricht hier vom McGurk-Effekt“, weiß Prof. Kristine Krug. Die Neurobiologin erforscht an der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg die Mechanismen unserer Wahrnehmung. Wie Wahrnehmung funktioniert und was sie von anderen Prozessen in unserem Gehirn unterscheidet.

Prägung durch soziale Einflüsse

Gemeinsam mit ihrem Team hat sie in ihrem jüngsten Versuch eine spannende Entdeckung weiterentwickelt: dass unsere Wahrnehmung zwar durch Sinnesreize erfolgt, gleichzeitig aber durch soziale Einflüsse geprägt ist. „Unsere Umwelt gibt uns Informationen auf unterschiedliche Weise“, erklärt die Neurobiologin.

„Elektromagnetische Strahlung reizt unser Auge, Druckwellen erreichen unser Ohr. Aber auch soziale Einflüsse füttern unsere Sinne.“ Haben wir beispielsweise die Wahl zwischen einem Apfel und einem Schokoeis, wird sehr schnell deutlich: Das Eis ist angelernt attraktiver, was wiederum die Signale beeinflusst, die unser Gehirn beim Anblick des Eisbechers sendet. Es ist also keine objektive Entscheidung, die wir in diesem Moment fällen, sondern eine vorgeprägte.

Umfassende Forschung

Um dies genauer zu erforschen, hat Krug im Rahmen einer großen Entwicklungsstudie über 150 neurotypische sowie autistische Schülerinnen und Schüler zusammen­gebracht. Jedem der 6 bis 14 Jahre alten Kinder wurde ein Bildschirm mit einem sich drehenden Zylinder gezeigt. Dann sollten sie so schnell und genau wie möglich entscheiden, ob sich dieser Zylinder links oder rechtsherum dreht.

Bei einem nächsten Experiment hatten die Kinder eine Art Co-Piloten an der Seite, der sie beriet. Es zeigte sich: „Neurotypische Kinder ab 12 Jahren integrieren systematisch die Meinung anderer in ihre Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse, selbst wenn die anderen falschliegen“, erklärt Prof. Krug. „Das bestätigt unsere Annahme, dass Wahrnehmungen und Entscheidungen im Laufe unserer Kindheit ab den frühen Teenagerjahren in Richtung von sozialen und emotionalen Einflüssen verschoben werden. Wir sehen wahrscheinlicher das, was auch andere vor uns gesehen haben.“

Der evolutionäre Sinn

Wenn uns also jemand sagt, der Zylinder dreht sich rechtsherum, dann ist ab einem gewissen Alter die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir das auch so sehen. Doch weshalb ist das so? Steckt ein evolutionärer Sinn dahinter?

„Weil wir dadurch oft Sachen automatisch richtig machen und schneller lernen“, so Kristine Krug. „Wenn eine Gruppe etwas macht, dann nehmen wir erstmal an, dass sie womöglich recht hat. Das hat außerdem zur Folge, dass das Handeln in der Gruppe ähnlich ist, was sich positiv auf den Gruppenzusammenhalt auswirkt. Zudem ist es förderlich für das gesamte soziale Lernen.“ Was die Studie ebenfalls zeigte: Dieser Automatismus steht autistischen Kindern anscheinend nicht zur Verfügung. „Sie haben fokussiert den objektiven physikalischen Stimulus beurteilt und waren nicht beeinflusst von dem, was andere gesagt haben“, sagt Krug.

Stärken und Schwächen

Dieser Fokus auf die objektive Wahrnehmung ist Stärke und Hürde gleichermaßen. Autistische Menschen sind sehr stark darin, Details objektiv wahrzunehmen, doch fehlt der Sinn für den sozialen Kontext. Und speziell in der Kindheit und Jugend lernen wir sehr stark von unserem sozialen Umfeld, was Autisten und Autistinnen entsprechend erschwert wird. Ein spannendes Beispiel dafür, dass unsere Sinne offenbar unter­schiedlich arbeiten und wir konsequenterweise die Welt unterschiedlich wahrnehmen.

Für Prof. Krug entwickelt sich daraus ein wichtiger gesellschaftlicher Auftrag: „Wenn es tatsächlich unterschiedliche Wahrnehmungen gibt, ist es besser, wenn die Gesellschaft sich dessen bewusst ist und damit umgehen kann. Wir müssen hinterfragen, wie wir unterschiedliche Stärken und Schwächen respektieren, Stereotype durchbrechen und in unsere Gesellschaft zum Vorteil aller integrieren.“

Wenn ein Sinn fehlt

Unterschiedliche Mechanismen, die zu unserer Wahrnehmung beitragen, zu verstehen, ist auch ein Grundbaustein in der Entwicklung der sogenannten Sinnesprothesen. Denn auch Menschen, die einen Sinn verloren haben, nehmen ihre Umwelt anders wahr als normtypische Menschen. Sie stehen vor individuellen Hürden und müssen sich die Teilhabe an der Gesellschaft mitunter neu erkämpfen.

 


Eine bahnbrechende Innovation für Menschen, die ihren Gehörsinn zum Großteil oder völlig einbüßen mussten, ist das Cochlea-Implantat, das, wie andere Sinnesprothesen auch, im Rahmen von Tierversuchen entwickelt wurde. Es wird hinter der Ohrmuschel unter der Haut eingesetzt, übersetzt die Schallwellen in elektrische Impulse an den Gehörnerv – und stellt damit den Sinn praktisch wieder her. „Und damit die Brücke von der Außen- in die Innenwelt“, so Prof. Krug. Die Auflösung ist momentan noch nicht so gut wie bei unserem körpereigenen, hochauflösenden Gehörsinn. Denn das Implantat aktiviert den Hörnerv an deutlich weniger Stellen, als uns zum Hören zur Verfügung stehen. Musik in ihrem ganzen Facettenreichtum wahrzunehmen, ist mit einer solch geringen Auflösung aktuell noch nicht möglich. Aber es ermöglicht den Menschen etwas Zentrales: mit der hörenden Umwelt zu interagieren und Sprache zu verstehen.

 

Übungen für scharfe Sinne

Trainieren wir unsere Sinne, macht uns das nicht nur schneller im Sehen, Hören oder Begreifen. Training ist auch wichtig, um unsere Sinne langfristig fit zu halten. Wir haben fünf Übungen für Sie zusammengestellt:

Zu den Übungen

Blinde sehen lassen

Auch das Sehen wird eines Tages durch Prothesen wieder neu möglich sein, da ist sich Neurowissenschaftlerin Kristine Krug sicher. Denn die Forschung schreitet voran und es gibt schon vielversprechende Erkenntnisse. Gearbeitet wird an visuellen Prothesen, die einen verletzten oder gänzlich fehlenden Sehnerv ersetzen. Wie dies geschehen kann? Das Team des internationalen Forschungsprojektes „I See“ beispielsweise arbeitet daran, Blinden durch eine Miniaturkamera wieder erste Seheindrücke zu ermöglichen.

Diese Kamera sammelt visuelle Informationen und übersetzt sie in sogenannte Signalmuster. Diese Muster werden dann an Implantate im Gehirn übertragen, die jene Areale ansteuern, die für die Verarbeitung visueller Informationen zuständig sind. Das könnte zum Beispiel so erreicht werden: Forschende des Netherlands Institute for Neuroscience arbeiten an einem Chip-Implantat, das Bilder direkt im Gehirn erzeugen kann. Durch eine gezielte elektrische Stimulierung des Gehirns über viele kleine Nadeln kann eine visuelle Wahrnehmung von Mustern ausgelöst werden – und dies ganz ohne äußere Lichtreize.

Tastsinn für eine Roboterhand

Dass der Ersatz von Hör- und Sehsinn momentan am schnellsten fortschreitet, hat einen Grund: Diese beiden Sinne arbeiten mit je zwei Organen, die die Informationen gebündelt sammeln. „Schwieriger ist es, Sinne zu imitieren, wenn diese verteilt sind“, erklärt Professor Krug. Unser Tastsinn beispielsweise läuft über eine Vielzahl von Rezeptoren in unserem ganzen Körper, was seine Imitation deutlich anspruchsvoller macht. „Aber es gibt auch hier schon spannende Ansätze“, berichtet Krug. So sei es beispielsweise bereits gelungen, einen Tastsinn für eine Roboterhand zu entwickeln.

Die Finger der Roboterhand sind mit Sensoren ausgestattet. Greift diese Roboterhand einen Gegenstand, so messen diese Sensoren den Druck, der auf die Finger ausgeübt wird. Diese Informationen werden wieder mittels elektrischer Ströme in die zuständigen Hirnareale eingespeist, dort vom Gehirn in Handlungsanweisungen übersetzt, wieder ausgelesen und zurück in die Roboterhand geleitet. „Der Tastsinn wird zu Motorik.“ So könnte es in Zukunft möglich sein, gelähmten Menschen Bewegungen wieder neu zu ermöglichen – und damit auch eine aktivere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Bildnachweis

Artikeleinstieg: _seb_ra (istockphoto.com)
Im Text: Sladic (istockphoto.com)
Portrait: Prof. Dr. Kristine Krug

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