„Wir haben viele Millionen kleine Uhren in uns“
Sie kommen morgens nicht aus dem Bett, während Ihr Partner schon längst in der Küche wirbelt? Das könnte an Ihrer inneren Uhr liegen. Neurobiologe Prof. Henrik Oster erklärt, was es mit der inneren Uhr auf sich hat und wie bedeutsam sie für unsere Gesundheit ist.
Wie wir ticken, bestimmt unsere innere Uhr. Aber was ist das eigentlich genau?
Wenn wir von der inneren Uhr sprechen, sprechen wir von inneren biologischen Rhythmen, denen wir alle unterliegen. Das einfachste Beispiel: Tagsüber ist es hell, nachts ist es dunkel. Die Bedingungen im Tagesverlauf, unter denen wir leben und unter denen unser Körper funktionieren muss, ändern sich. Unter natürlichen Bedingungen, bei wilden Tieren beispielsweise, ändert sich natürlich auch eine ganze Reihe von anderen Faktoren: Temperatur, An- und Abwesenheit von Nahrung, An- und Abwesenheit von eventuellen Bedrohungen und viele weitere. Und deshalb gibt es diese inneren Uhren bei fast allen Lebewesen – bei allen Tieren und den meisten Pflanzen – die dafür sorgen, dass der Organismus sich auf Umweltbedingungen voreinstellen kann und optimal mit ihnen arbeitet.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Eine Pflanze, die Photosynthese betreibt, also ihre Energie aus dem Sonnenlicht gewinnt. Für sie macht es Sinn, wenn sie diese Maschinerie schon vor Sonnenaufgang langsam anzutreiben beginnt, sodass sie, wenn die Sonne da ist, optimal von ihr profitieren kann. Sich auf den Tag-Nacht-Zyklus einzustellen, ist in evolutionärer Hinsicht einfach sehr vorteilhaft. Viele Prozesse in unserem Körper werden auch von dieser inneren Uhr des Tag-Nacht-Zyklus geregelt: unser Schlaf-Wach-Rhythmus, viele Hormone, das Immunsystem, unser Energiestoffwechsel. Alle diese Dinge sind Funktionen der inneren Uhr. Es ist günstig für einen Organismus zu verstehen, welche Prozesse zu welcher Tageszeit am effizientesten verlaufen – um Energie zu sparen und letztendlich evolutionär fitter zu werden.
Uhren in Gehirn und Leber
Das heißt also, dass Gehirn, Darm oder Herz morgens anders arbeiten als abends?
Genau. Wir haben tatsächlich nicht nur die eine innere Uhr, sondern jede unserer Zellen hat eine eigene. Das heißt, wir haben viele Millionen kleine Uhren in uns und eine Art Zentraluhr im Gehirn, die dafür sorgt, dass alle inneren Uhren mit dem äußeren Zeitrhythmus synchron laufen. Die Uhren in der Leber sorgen dann zum Beispiel dafür, dass das Organ tagsüber mit der Verdauung und dem Energiestoffwechsel beschäftigt ist und nachts primär solche Vorgänge wie Entgiftung, immunrelevante Programme oder Regenerationsprozesse anschiebt.
Auffallend viele Herzinfarkte geschehen in den Morgenstunden. Liegt das an der inneren Uhr?
Ja. Morgens, in den ersten vier bis fünf Stunden des Tages, ist das Risiko für Herz-Kreislauf-Ereignisse am größten. Das hat damit zu tun, dass in dieser Zeit der Blutdruck steigt. Das System beginnt zu arbeiten, fährt langsam hoch, und das ist eine kritische Phase für das Herz. Für Menschen, die da empfindlich sind, weil sie vielleicht ein schon vorgeschädigtes Herz haben oder unter Atherosklerose leiden, ist das die Risikozeit. Etwa die Hälfte aller Herzinfarkte finden in diesen Morgenstunden statt, während es in den restlichen 18 Stunden relativ ruhig ist. Hier ist unsere innere Uhr am Steuer.
„Nachts sind wir am schmerzempfindlichsten, hin zum frühen Morgen. Zwischen drei und vier Uhr morgens sind wir durch das sensitivste Schmerzfenster durch.“
Auch unser Schmerzempfinden verändert sich im Tagesverlauf…
Ebenso ein Effekt der inneren Uhr. Nachts sind wir am schmerzempfindlichsten, hin zum frühen Morgen. Zwischen drei und vier Uhr morgens sind wir durch das sensitivste Schmerzfenster durch. Verschiedene Prozesse spielen hier eine Rolle: die Art, wie das Gehirn Schmerzsignale verarbeitet, aber auch die Sensorik, also wie ein Schmerzsignal vom jeweiligen Organ oder Körperteil empfangen wird. Wenn wir in dieser sensitiven Zeit ein Schmerzsignal empfangen, reagiert unser Gehirn, als sei dieses Signal viel stärker als am frühen Nachmittag, wenn das Minimum erreicht ist.
Kleine medizinische Eingriffe, die schmerzhaft sind, sollte man also am besten am frühen Nachmittag durchführen?
Wenn man zum Zahnarzt muss, Angst vor Spritzen hat und lieber ohne Betäubung behandelt werden möchte, dann würde ich empfehlen, am frühen Nachmittag zu gehen. Das ist schmerztechnisch besser zu ertragen, als wenn die Behandlung am Morgen stattfindet. Interessant ist das beispielsweise auch für Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden und deshalb schmerzlindernde Medikamente nehmen. Diese Medikamente sind ja nicht ohne Nebenwirkungen und da kann es vorteilhaft sein, die Dosierung tageszeitlich anzupassen – also die Dosis tagsüber, besonders nachmittags, herunterzufahren. So kann mit einer geringeren Dosis die gleiche Wirkung erzielt werden. Für die Nacht, die schmerzempfindlichste Zeit, würde man die Dosis etwas höher ansetzen, um den Patientinnen und Patienten einen erholsamen Schlaf zu ermöglichen.
Unterschiedliche Chronotypen
Sind diese biologischen Rhythmen, denen wir unterliegen, bei allen Menschen gleich?
Grundsätzlich ja, aber individuell tickt unsere Uhr immer ein bisschen anders. Die Menschen unterscheiden sich in unterschiedliche Chronotypen, wie wir sie nennen. Die einen sind ein bisschen früher, die anderen ein wenig später. Nehmen wir das Beispiel Schmerzempfindlichkeit: Bei einem sehr frühen Chronotyp wird die weniger sensitive Phase eher am frühen Nachmittag, vielleicht sogar schon am späten Morgen beginnen. Bei einem späten Chronotyp ist sie entsprechend ein bisschen nach hinten verschoben.
Kann ich herausfinden, welcher Chronotyp ich bin?
Eine Orientierung gibt der Blick auf das Schlafverhalten. Die Frage ist: Wie schlafe ich, wenn ich so schlafe, wie ich will? Also wenn ich rein nach meinem Gefühl, ohne familiäre, soziale oder Arbeitsverpflichtungen, abends zu Bett gehen und morgens aufstehen würde? Aus diesem Zeitraum bestimmt man die mittlere Schlafenszeit. Heißt: Wenn man gegen Mitternacht ins Bett geht und um acht Uhr aufwacht, ist die Mitte daraus vier Uhr. Das wäre der Chronotyp. Der durchschnittliche deutsche Mensch hat ungefähr diesen 4-Uhr-Chronotyp. Dann gibt es aber jene, die deutlich später schlafen würden, wenn sie sich nicht nach anderen oder nach irgendwelchen anderen Konventionen richten müssten. Und es gibt eben auch solche, die deutlich früher zu Bett gehen und dann vielleicht auch früher aufstehen. Das wären frühe beziehungsweise späte Chronotypen.
Medikamente tageszeitlich optimieren
Wird die innere Uhr bereits in Therapieverfahren beachtet?
Wir wissen mittlerweile, dass eine Therapie, die die innere Uhr berücksichtigt, oft größere Erfolge erzielt als die Standardtherapie. Prinzipiell verfolgt man dabei zwei Ansätze: zum einen die tageszeitliche Optimierung der Medikamentengabe, also wann und wie viel des Wirkstoffs ein optimales Wirkungs-Nebenwirkungs-Verhältnis ergibt. Zum anderen kann eine Stabilisierung der inneren Rhythmen, zum Beispiel über Lichttherapie, zeitlich gesteuerte Aktivität oder Nahrungsaufnahme, unsere Widerstandskraft bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen erhöhen. Im Bereich der Forschung gibt es da schon länger Initiativen, bis zur systematischen Umsetzung in der Praxis ist es jedoch ein langer Weg. Hier in Deutschland sind wir im internationalen Vergleich noch etwas hinterher.
Bildnachweis
Artikeleinstieg: Rob und Julia Campbell (stocksy.com)
Beitragsbild: swissmediavision (istockphoto.com)
Beitragsbild: Paperkites (istockphoto.com)
Portrait: FLI/Nadine Grimm